Aus welchem Grund war der ehemalige
Arbeitsminister in Idomeni? Norbert Blüm, 80 Jahre alt, wollte wissen,
aus welchem Grund die Flüchtlinge nach Deutschland streben. Not allein
ist nicht ihr Motiv.
Von
Henryk M. Broder
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Nicht beim Open-Air-Konzert in Wacken, sondern in seinem Zelt bei den Flüchtlingen in Idomeni: der ehemalige Arbeitsminister Norbert Blüm Foto: dpa |
Nun, da die Schicksalswahlen in Sachsen-Anhalt,
Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz vorbei sind, wollen wir uns einen
kurzen Blick zurück erlauben. Letzten Samstag meldete die "Tagesschau",
die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner habe in einem Interview mit der "Welt am Sonntag" (Link: http://www.welt.de/153131877)
erklärt, ihr Land plane "seine Grenze an zwölf
weiteren Übergängen zu sichern". Derweil, so der Nachrichtensprecher,
würden Tausende Flüchtlinge "am griechisch-mazedonischen Grenzort
Idomeni verharren", einige "protestierten auch heute wieder und
forderten die Öffnung der Grenze nach Mazedonien".
In der darauffolgenden Reportage aus Idomeni sah man, unter
welchen Bedingungen die Flüchtlinge verharren. "Am Ende müssen sie
selbst ihre Kleidung verbrennen, weil sie frieren. Und der Gestank macht
für viele das Überleben nur noch schwieriger. Es fehlt auch weiterhin
an allem, Gerangel regelmäßig bei der Verteilung von Lebensmitteln und
Schuhen. Bei den ungefähr 12.000 Menschen in Idomeni liegen die Nerven
blank."
Ein Flüchtling, etwa 30 Jahre alt, sagte, er komme aus
Aleppo und er wolle in jedem Fall "bis zum EU-Gipfel am 17. März" in dem
Lager bleiben. Ein wesentlich älterer Mann klagte: "Wenn sie uns nicht
weiter nach Europa lassen, dann sollen sie uns zurückbringen, nach
Hause, ich will zurück nach Hause, es ist so schlimm hier."
Norbert Blüm mit "Batschkapp"
Dann ging es im Off weiter: "Ein Bild vom Drama in Idomeni
macht sich Norbert Blüm, er hält es für einen Anschlag auf die
Menschlichkeit." Die Kamera schwenkte über die kleinen Campingzelte
hinweg und blieb dann bei Norbert Blüm stehen, der seinerseits mitten
zwischen den Zelten stand, als würde er einen Platz suchen.
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Foto: dpa Norbert Blüm bei seinem Gang durch das Flüchtlingslager in Idomeni am 12. März 2016 |
Auf dem Kopf eine "Batschkapp" oder auch "Schiebermütze",
darunter eine Windjacke, ein Pullover und Jeanshosen, denen der füllige
Ex-Minister längst entwachsen ist. Er sagte: "Man muss sich nur mal in
die Lage versetzen. Ich würde denen, die da große Töne spucken, mal
empfehlen, drei Tage hier zu sein. Dem österreichischen Bundeskanzler,
dem slowakischen, der polnischen ... Eine Schande für Europa."
Dass Blüm in diesem Zusammenhang die deutsche Kanzlerin
verschonte, konnte mit den bevorstehenden Wahlen in drei Bundesländern
zu tun haben. Oder auch damit, dass die Kanzlerin erst vor Kurzem gesagt
hat, es gebe "genug Übernachtungsmöglichkeiten in Griechenland". Weil
er diesen Worten offenbar nicht ganz traute, hatte Blüm ein eigenes Zelt
mitgebracht, in dem er eine Nacht verbringen wollte – Seite an Seite
mit den Flüchtlingen, die etwas länger ausharren müssen, bis auf einem
der kommenden EU-Gipfel über ihr weiteres Schicksal entschieden wird.
Besaß Blüm ein eigenes Dixi-Klo?
Was mir in diesem Zusammenhang durch den Kopf ging, waren
zwei Fragen. Erstens: Wie ist Blüm von Bonn, wo er lebt, nach Idomeni
gekommen? Hat er den Zug genommen? Oder ist er geflogen? Wer hat ihm bei
der Logistik geholfen, das Zelt besorgt und den Proviant eingekauft?
Hat er auch ein eigenes Dixi-Klo mitgebracht oder musste er am Morgen
mit den anderen Flüchtlingen Schlange stehen?
War rein zufällig ein Kamerateam vor Ort, als Blüm eintraf?
Oder wurde er schon erwartet? Und was wollte er mit seiner Aktion
erreichen, außer dass man seit dem 13. März auf Wikipedia lesen kann:
"Norbert Blüm übernachtete in der Nacht vom 12. auf den 13. März 2016 im
Flüchtlingslager Idomeni (Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Idomeni)
, um seine Solidarität mit den Flüchtlingen im Lager zu bekundigen. (sic!)" Bravo, Blümchen!
Die zweite Frage ist etwas komplexer: Was wollen die
Flüchtlinge? Etwa das, was auf einem Stück Pappe zu lesen war, das ein
kleines Mädchen in die Kamera hielt: "Merkel – help, help!" Selbst wenn
Mazedonien seine Grenzen öffnen und die auf der griechischen Seite
verharrenden Flüchtlinge ins Land lassen würde, wären diese noch lange
nicht am Ziel ihrer Träume.
Erwartungshaltung der Flüchtlinge
Zwischen Idomeni an der griechisch-mazedonischen und
Freilassing an der deutsch-österreichischen Grenze liegen etwa 1500
Kilometer und etliche Grenzen, die inzwischen ziemlich undurchlässig
sind. Die Flüchtlinge müssten Mazedonien und Serbien durchqueren, dann
Kroatien und Slowenien passieren, um schließlich an der Grenze zu
Österreich anzukommen, das sich, wie man überall hören kann, ebenfalls
"abschottet". Die mehrfache Fortsetzung des "Dramas von Idomeni" ließe
sich nur vermeiden, wenn "Mama Merkel" jeden einzelnen Flüchtling
persönlich abholen oder Hunderte von Bussen schicken würde, um sie
unterwegs einzusammeln. Mit beidem ist derzeit nicht zu rechnen. Das
könnten, müssten die Flüchtlinge eigentlich wissen.
Sie haben Smartphones, sind untereinander vernetzt und
informieren sich gegenseitig über Fluchtrouten und die Zustände beim
Lageso in Berlin und anderen "Erstaufnahmeeinrichtungen" entlang des
Weges. Entgegen anderslautenden Berichten wird auch kein Flüchtling
gezwungen, in Idomeni zu verharren.
Aber nur wenige nehmen das Angebot der griechischen Stellen
an, in anderen Lagern untergebracht zu werden, wo wenigstens eine
Grundversorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten gesichert ist. Die
meisten wollen in Idomeni bleiben, ganz nah an der Grenze, um den Moment
der Öffnung nicht zu verpassen. Ein Teil allerdings versucht, zu Fuß
die Grenzanlagen zu umgehen, wohl wissend, dass sie nicht weit kommen
werden. Mazedonien wird sie nach Griechenland zurückschicken, in das
Lager von Idomeni, die Hölle auf Erden.
Gibt es für diese Art der Beharrlichkeit eine halbwegs
vernünftige Erklärung? Ja. Anders als im hedonistischen Europa, wo
Jugendliche, denen der Einlass in eine Disko verweigert wurde, wegen
einer posttraumatischen Belastungsstörung behandelt werden müssen, gilt
in der arabisch-islamischen Kultur das Leiden als ein Wert an sich.
Das festzuhalten grenzt in Zeiten der Political Correctness
an "kulturellen Rassismus", macht die Feststellung aber nicht weniger
wahr. Märtyrer zu werden, sich zu opfern ist in der arabisch-islamischen
Welt als Lebensziel ebenso weitverbreitet wie unter deutschen
Jugendlichen der Wunsch, Eventmanager zu werden. Familien von Märtyrern
genießen großes Ansehen. Der Stolz auf ihre Kinder – vor allem Söhne,
aber auch immer öfter Töchter – lässt weder Trauer noch Scham aufkommen.
Dazu kommt noch etwas. Das Gefühl, für das eigene Schicksal
verantwortlich oder wenigstens mitverantwortlich zu sein, ist,
freundlich formuliert, extrem schwach entwickelt. Geht etwas schief,
sind immer andere schuld: der Kolonialismus, der Kapitalismus, der
Imperialismus, der Zionismus, der Westen an sich und die Unmoral, die er
überall verbreitet. Wenn es allerdings darum geht, Klimaanlagen zu
bauen oder sich den Blinddarm rausnehmen zu lassen, begibt man sich
gerne in die Hände westlicher Experten, deren Lebensstil man ansonsten
verachtet.
"Kein Mensch ist illegal"
Auch die Eltern der Kinder, die uns jeden Tag aus großen
traurigen Augen hilfesuchend ansehen, fühlen sich für die Leiden ihrer
Kinder nicht verantwortlich. Schuld sind diejenigen, welche die Grenzen
dichtgemacht haben, die Grenzen zwischen Griechenland und Mazedonien,
Mazedonien und Serbien, Serbien und Kroatien, Kroatien und Slowenien,
Slowenien und Österreich, Österreich und Deutschland. Offenbar gehen die
meisten Flüchtlinge davon aus, dass das Recht, nach Deutschland kommen
zu können, sich in Deutschland niederlassen zu dürfen, ein
unverhandelbares Grundrecht ist. Und das hat nicht nur mit den Selfies
der Kanzlerin zu tun.
Es ist eine Frage der Ehre, die ebenso wie der Märtyrerkult
zu den Säulen der arabisch-islamischen Kultur gehört, dass man sich von
Ungläubigen nicht vorschreiben lässt, wie und wo man leben soll. Eine
Berlinerin, die sich seit Monaten in der Flüchtlingshilfe engagiert,
bringt es auf den Punkt: "Sie finden, dass wir ihnen dankbar sein
sollten, dass sie zu uns kommen."
Solche Kundgebungen der Dankbarkeit sind inzwischen Teil der
verbalen Willkommenskultur. Ins Demo-Deutsch übersetzt lauten sie:
"Kein Mensch ist illegal!" und "Bleiberecht für alle!" Die
Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt,
jubelte kürzlich bei einer Synode der EKD: "Wir kriegen jetzt plötzlich
Menschen geschenkt", mit deren Hilfe werde Deutschland "religiöser,
bunter, vielfältiger und jünger". Und auch ein wenig gewaltaffiner, wie
man spätestens seit der Silvesternacht in Köln und andernorts weiß, ohne
dass dies einen Generalverdacht rechtfertigen würde.
Bitte keine schlichte Rettung!
Das Verhalten der Flüchtlinge ist aus ihrer Sicht logisch
und nachvollziehbar, stellt aber einen Fall von moralischer Erpressung
dar. "Geschieht euch recht, wenn uns die Finger abfrieren, warum kauft
ihr uns keine Handschuhe?!" Noch nie waren Menschen, die sich auf der
Flucht befinden, dermaßen auf eine Option fixiert.
Es ist, als würden Schiffbrüchige, die in einem Rettungsboot
auf hoher See dahintreiben, darauf warten, dass ein Schiff ihrer Wahl
vorbeikommt und sie aufnimmt. Es sollte schon ein großer Dampfer mit
gutem Service sein, keine schlichte Barkasse. Dafür, dass sie am Ende
enttäuscht werden, weil sie sich das Leben in Deutschland ganz anders
vorgestellt haben, werden sie nicht sich, sondern den überforderten
Gastgebern die Schuld geben. Die sind es, die sich nicht genug Mühe
gegeben haben, sie zu verstehen.
Abgesehen natürlich von Norbert Blüm, der inzwischen wieder
in Bonn eingetroffen ist und überlegt, wohin er demnächst reisen wird,
um in die "Tagesschau" zu kommen.
Quelle: http://www.welt.de/debatte/henryk-m-broder/article153311048/Was-Bluemchen-in-Idomeni-zu-sehen-bekam.html
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