Wir haben Demut verlernt. Das ist das Ergebnis einer brachialen
Säkularisierung, die den Glauben abgeschafft und einen neuen Aberglauben
etabliert hat: dass alles machbar und nichts unmöglich ist.
Vor 112 Jahren, am 17. Dezember 1903, starteten die Brüder Orville und Wilbur Wright (Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Br%C3%BCder_Wright)
mit einem von ihnen gebauten Doppeldecker namens
"The Whopper Flying Machine" zu einem Abenteuer, von dem Generationen
geträumt hatten, seit Leonardo da Vinci 400 Jahre zuvor einen
Flugapparat gezeichnet hatte.
Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit, so Orville
Wright, der Pilot, habe sich "eine Maschine mit einem Menschen ... durch
ihre eigene Kraft in freiem Flug in die Luft erhoben", sei dann "in
waagerechter Bahn vorwärts geflogen" und war gelandet, "ohne zum Wrack
zu werden".
Der erste "Flug" mit dem 340 Kilo schweren Gerät, wovon 81
Kilo auf den Motor entfielen, dauerte 12 Sekunden und ging über 37
Meter, was einer Geschwindigkeit von beinah 11 Kilometern pro Stunde
entsprach. Schon der zweite Flug, den Bruder Wilbur unternahm, ging über
eine wesentlich längere Distanz: 260 Meter in 59 Sekunden.
![]() |
Landeplätze der Apollo-Missionen |
Die Brüder Wright wussten, dass sie ein neues Kapitel im
großen Buch der Erfindungen aufgeschlagen hatten. Was sie nicht einmal
ahnen konnten, war, dass am 21. Juli 1969 ein Fluggerät namens "Apollo" (Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Mondlandung)
mithilfe einer Raumfähre Menschen auf dem Mond
absetzen würde. Zwischen den "Flügen" der Brüder Wright und der ersten
Mondlandung waren nur 66 Jahre vergangen!
200.000 Freiwillige für die Mars-Mission
200.000 Freiwillige für die Mars-Mission
Inzwischen sind mehrere Sonden zum Mars befördert worden, um
von dort Daten zur Erde zu funken, die eine bemannte Mission
vorbereiten sollen. Wenn alles gut geht, soll im Jahre 2025, also
übermorgen, eine Kolonie auf dem Mars bezugsfertig sein. Obwohl es für
die Besatzung eine Reise ohne Wiederkehr werden soll, haben sich mehr
als 200.000 Freiwillige gemeldet, die ihr Leben auf dem Roten Planeten
vollenden möchten.
Man mag das abenteuerlich, unüberlegt oder verrückt finden,
sollte dabei aber nicht vergessen, dass vieles, was heute zum Alltag
gehört, wie die elektronische Post oder das Smartphone, noch zur Zeit
des Mauerfalls nur in Science-Fiction-Romanen zu finden war. Die
Visionen von gestern sind die Sonderangebote von heute. Alles ist
machbar, und "nichts ist unmöglich". Der Werbespruch von Toyota ist zum
Leitmotiv des Fortschritts geworden.
Während in den Feuilletons noch über die praktischen Vorzüge
und ethischen Probleme selbstfahrender Autos diskutiert wird, ist die
Automobilindustrie schon einen Schritt weiter. In einer nicht allzu
fernen Zukunft sollen Autos auf den Markt kommen, die der "Fahrer" mit
seinen Gedanken steuert, möglicherweise, ohne vom Ikea-Sofa im
heimischen Wohnzimmer aufstehen zu müssen.
Die Visionäre der alten Schule wurden verlacht
Die Visionäre der alten Schule wurden verlacht
Ob dann Autos überhaupt noch gebraucht werden oder man alle
Reisen telepathisch und virtuell erledigen kann, ist eine Frage der
Software, die erst entwickelt werden muss. Während Helmut Schmidt noch
meinte, wer Visionen habe, solle einen Arzt aufsuchen, brauchen
Visionäre heute vor allem begabte IT-Spezialisten, die jeder Aufgabe
gewachsen sind.
Man fragt sich, wie die Visionäre von gestern und vorgestern
ohne computergesteuerte Simulationen, ohne Analysten, Berater und
Trendforscher ausgekommen sind. Kolumbus hatte eine Idee und einen
Kompass; Theodor Herzl träumte von einem Judenstaat in der Wüste, Martin
Luther King vom Ende der Rassentrennung, Axel Springer wollte sich mit
der deutschen Teilung nicht abfinden.
Die Visionäre der alten Schule waren keine Pragmatiker, ganz
im Gegenteil, sie trotzten dem Zeitgeist und wurden dafür ausgelacht
und verspottet. Wenn sie je anerkannt wurden, dann geschah das fast
immer post mortem.
"Dekarbonisierung der Weltwirtschaft"?
"Dekarbonisierung der Weltwirtschaft"?
Die Visionäre von heute sind aus einem anderen Holz
geschnitzt. Es sind Vollzugsbeamte, die dem Zeitgeist zur Geltung
verhelfen. Angela Merkel zum Beispiel hat durchaus eine "langfristige
Vision", genau genommen sind es sogar zwei.
Sie möchte die von ihr initiierte Energiewende bis 2050
umgesetzt wissen und die "Dekarbonisierung der Weltwirtschaft" bis zum
Ende dieses Jahrhunderts erreichen, also fossile Energieträger (Kohle,
Öl, Gas) durch kohlendioxidfreie Energiequellen (Sonne, Wind, Wasser)
weltweit ersetzen.
Eine kurzfristige Vision hat sie inzwischen fallen lassen:
Bis 2020, so der Plan, sollten eine Million Elektroautos auf deutschen
Straßen unterwegs sein. Davon ist keine Rede mehr, nicht etwa, weil auch
der Strom für die E-Autos irgendwo und irgendwie erzeugt werden muss,
sondern weil es derzeit unmöglich ist, Massen von Autofahrern zum Kauf
von E-Autos zu zwingen.
Aber an ihrer langfristigen Vision hält die Kanzlerin
unbeirrt fest: Energiewende bis 2050 und Dekarbonisierung der
Weltwirtschaft bis 2100. Obwohl sie natürlich weiß, dass, egal, wie die
Dinge derzeit laufen, sie im Jahre 2050 nicht mehr im Amt sein wird, um
Lob oder Prügel für ihre Beharrlichkeit zu kassieren.
Selbstüberschätzung und Selbstüberhebung
Selbstüberschätzung und Selbstüberhebung
Sind das Visionen oder Halluzinationen? Egal, es sind
Symptome der Selbstüberschätzung und der Selbstüberhebung, die nicht nur
das Verhalten der Kanzlerin bestimmen. Auch die Deutsche Bank und
Volkswagen sind in Krisen geschlittert, weil die führenden Manager
Visionen hatten, an denen sie sich berauschten, bis die Party von der
Sittenpolizei abgebrochen wurde.
Der naheliegende Gedanke, irgendjemand könnte ihnen auf die
Schliche kommen, war ihnen nicht einmal fremd, er war nicht da. Sie
spielten Gott in Nadelstreifen, und wer würde es schon wagen, solchen
Göttern in den Arm zu fallen?
Das haben wir nun davon, dass wir den Menschen zum Maß aller
Dinge erhoben und alles Metaphysische unter den "Generalverdacht" des
Rückständigen gestellt haben. Die Abwesenheit von Demut ist das Ergebnis
einer brachialen Säkularisierung, die den Glauben abgeschafft und dafür
dem Aberglauben den Weg geebnet hat – dass alles machbar und nichts
unmöglich ist.
Das Gesetz der Casting-Shows
Das Gesetz der Casting-Shows
Die Zehn Gebote sind auf zwei eingedampft worden: "Du kannst
es. Du schaffst es." Egal, ob es um die Energiewende oder die Teilnahme
an einer Casting-Show geht. Die Welt als Wille und Vorstellung ist kein
philosophisches Konzept, sondern gelebter Alltag.
Man ist das, was man sein möchte. Es reicht, sich nur eine
Folge von "Deutschland sucht den Superstar" anzusehen, um eine Ahnung
davon zu bekommen, wie es auch bei einer Regierungssitzung im Kanzleramt
oder im VW-Vorstand zugeht.
Robuste Fehleinschätzung der eigenen Möglichkeiten,
verbunden mit Durchhaltevermögen sind die einzigen Eigenschaften, auf
die es ankommt. Wer sagt denn, dass es so etwas wie Wirklichkeit gibt?
Wirklichkeit ist nur ein soziales Konstrukt, ebenso wie geschlechtliche
Zugehörigkeit.
Es gilt das Prinzip der Chancengerechtigkeit. Und wer
dennoch versagt, der hat das Recht, sich bei der
Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu beschweren.
Quelle: http://www.welt.de/debatte/henryk-m-broder/article149224352/Wir-brauchen-Demut-statt-Machbarkeitswahn.html
Quelle: http://www.welt.de/debatte/henryk-m-broder/article149224352/Wir-brauchen-Demut-statt-Machbarkeitswahn.html
No comments:
Post a Comment