Paul Collier ist ein viel beschäftigter Mann. Der
in Oxford lehrende Ökonom gehört zu
den führenden Migrationsforschern weltweit. Seine Empfehlungen
zur Lösung der größten Flüchtlingswelle seit dem Zweiten
Weltkrieg sind gefragt. Gleich zu Beginn des Interviews mahnt er
zur Eile, die Investorenlegende George Soros brauche Rat für die
passende Entwicklungshilfe.
Der ehemalige Direktor der Weltbank warnt vor falschen Tabus und
plädiert für eine leidenschaftslose Analyse. Die Polarisierung
zwischen Gegnern und Befürwortung der Einwanderung mischt er
gehörig auf. Nichts verdeutlicht das mehr als sein wegweisendes
Buch zum Thema Migration, das er 2014 unter dem Titel "
Exodus: Warum wir Einwanderung neu
regeln müssen " geschrieben hat. Der "Welt" gab der 62-jährige
Brite, der selbst Enkel eines Einwanderers ist, exklusiv ein
Interview.
Die Welt: Derzeit befinden sich 60 Millionen
Menschen auf der Flucht, so viele wie noch nie seit dem Zweiten
Weltkrieg. Dennoch warnen Sie, dass dieser Exodus erst der Beginn
sein könnte. Warum?
Paul Collier: Man muss da ganz klar
unterscheiden. Wir haben es in dieser Flüchtlingskrise zum einen
mit gescheiterten Staaten wie Syrien zu tun. Den Menschen, die
von dort flüchten, geht es um das nackte Überleben. Da reden wir
von ungefähr 14 Millionen Menschen. Und dann gibt es noch all
jene, die in armen Ländern leben und sich auf den Weg in die
reiche westliche Welt machen, um dort ihr Glück zu finden. Das
sind Hunderte Millionen Menschen. Eine gewaltige Masse, die, wenn
sie sich einmal in Bewegung setzt, kaum noch steuerbar ist.
Die Welt: Müssen wir uns darauf einstellen, dass
sich halb Afrika auf den Weg macht?
Collier: Das Chaos in vielen afrikanischen
Staaten nimmt definitiv zu. Der frühere Weltbank-Ökonom Serge
Michaïlof vertritt ja die These, dass die Region südlich des
Äquators das nächste Afghanistan werden könnte. Dort leben etwa
100 Millionen Menschen, und vor allem in Mali und im Niger ist
die Lage bereits sehr instabil. Und dann kommt da die deutsche
Kanzlerin und spricht davon, dass Europas Türen offen sind.
Überlegen Sie doch einfach mal, wie das bei diesen Menschen
ankommt.
Die Welt: Sie meinen, Angela Merkel ist schuld
an der Flüchtlingskrise in Europa?
Collier: Wer sonst? Bis zum vergangenen Jahr
waren Flüchtlinge für Europa kein großes Thema. Ich verstehe bis
heute nicht, warum Frau Merkel so gehandelt hat. Sie hat
Deutschland und Europa damit definitiv ein gewaltiges Problem
aufgebürdet, das sich nun auch nicht mehr so einfach lösen lässt.
Die Welt: Wird das Merkel die Kanzlerschaft
kosten?
Collier: Das kann ich beim besten Willen nicht
beantworten. Aber was ich sagen kann: Durch ihre Kommunikation
hat sie aus Flüchtlingen erst Migranten gemacht.
Die Welt: Das bedeutet?
Collier: Ganz einfach: Deutschland gefällt sich
offensichtlich in der Retterrolle. Aber es grenzt an keines der
Krisen- oder Kriegsländer. All diese Menschen, die zu Ihnen
kommen, haben sich aus sicheren Drittstaaten auf den Weg gemacht.
Deutschland hat keinen einzigen Syrer vor dem Tod gerettet. Im
Gegenteil: Deutschland hat trotz bester Absichten eher Tote auf
dem Gewissen. Die Sache ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Viele
Menschen haben Merkels Worte als Einladung verstanden und sich
danach überhaupt erst auf den gefährlichen Weg gemacht, haben
ihre Ersparnisse geopfert und ihr Leben dubiosen Schleppern
anvertraut.
Die Welt: Dann hat Ungarns Premier Viktor Orbán
recht, wenn er Europa durch Zäune und Wälle vor dem Ansturm der
Massen schützen will?
Collier: Mich interessiert in keiner Weise, was
einzelne Politiker dazu zu sagen haben. Aber Grenzen und Zäune
sind sicherlich nicht die Lösung für das Problem.
Die Welt: Sondern?
Collier: Es muss einen radikalen Schwenk in der
Kommunikation geben. Europa muss klar sagen, dass sich die
Wohlstandsmigranten gar nicht erst auf den Weg zu machen
brauchen. Und auch die Flüchtlinge, die sich in Sicherheit
bringen wollen, können das nicht länger in Europa tun, sondern in
den sicheren Nachbarstaaten, ganz so, wie es völkerrechtlich
festgelegt ist. Das Prinzip, dass sichere Anrainerstaaten Schutz
bieten sollen, muss aus zwei Gründen zwingend gelten: Zum einen
kommen die Flüchtlinge in das sichere Nachbarland am einfachsten
hinein, ohne sich unnötig in Gefahr zu bringen. Und wenn wieder
Frieden in ihrer Heimat herrscht, können die Flüchtlinge auch
sehr einfach wieder zurück und beim Wiederaufbau helfen.
Die Welt: Viele Flüchtlinge in Deutschland
scheinen sich allerdings langfristig hier niederlassen zu wollen.
Collier: Das wird in der ganzen Diskussion oft
vergessen. Es machen sich vor allem die vergleichsweise gut
ausgebildeten und relativ Wohlhabenden auf den Weg. Genau diese
Menschen werden auch nicht wieder zurückgehen, wenn sie einmal im
Westen Fuß gefasst haben. Den Krisenländern fehlen dann genau
jene Menschen, die sie für eine stabile Zukunft am dringendsten
brauchten.
Die Welt: Aber der Libanon, die Türkei und
Jordanien können die Last doch jetzt schon nicht mehr schultern.
Collier: Ich habe mir eines dieser Aufnahmelager
in Jordanien angesehen. Das Leben dort ist nicht großartig, aber
erträglich. Und nur darauf kommt es an. Wir müssen den Menschen,
die ihre Heimat nicht freiwillig verlassen haben, helfen. Aber
deshalb haben sie noch lange keinen Anspruch auf einen Platz im
europäischen Wohlstandshimmel.
Die Welt: Damit machen Sie es sich aber sehr
einfach.
Collier: Nein, keineswegs. Natürlich sollen die
Schwellenländer nicht auf den Kosten der Flüchtlingsversorgung
sitzen bleiben. Es ist definitiv Sache der reichen Länder, sie
dafür angemessen zu entschädigen.
Die Welt: Dann gefällt Ihnen Schäubles Vorschlag
eines Marshallplans für die sicheren Anrainerländer?
Collier: Absolut, das ist genau der richtige
Ansatz. Dreh- und Angelpunkt ist es allerdings, all diese
Menschen wieder in Jobs zu bringen. Momentan haben die
Flüchtlinge in den großen Auffanglagern in Jordanien oder der
Türkei keine wirkliche Perspektive. Bringt man sie vor Ort in
Jobs, schwindet auch der Anreiz, weiter nach Westeuropa zu
ziehen. Wer Jobs schafft, hat auch eine gewisse Kontrolle über
die Flüchtlinge. Zäune hingegen oder Schutzgeld für die Türkei
sind weniger effektiv.
Die Welt: Wer soll denn diese Millionen von Jobs
in Jordanien schaffen?
Collier: Die deutsche Wirtschaft ist dafür
geradezu prädestiniert. Deutsche Unternehmen haben doch
massenhaft Jobs nach Polen oder in die Türkei verlagert. Warum
also nicht auch nach Jordanien?
Die Welt: Weil es dort unter anderem an der
nötigen Infrastruktur, Absatzmärkten und ausgebildetem Personal
fehlt?
Collier: Jordanien hat sogar extra
Wirtschaftszonen eingerichtet, die bestens erschlossen sind. Auch
müssen sie kein Kernphysiker sein, um in einer Werkhalle zu
arbeiten. Die Syrer sind nicht schlechter qualifiziert als etwa
die Türken.
Die Welt: Wenn es so einfach ist, warum streitet
Europa dann über Grenzsicherung und Flüchtlingsobergrenzen?
Collier: Europa führt die völlig falsche
Debatte. Die Europäische Union ist nicht zuständig für die
Aufnahme der Flüchtlinge. Es ist aber sehr wohl zuständig dafür,
seine eigenen Grenzen zu sichern, entweder gemeinschaftlich oder,
wenn das nicht geht, dann eben jeder Einzelstaat für sich. Ich
verstehe nicht, warum darüber überhaupt debattiert wird.
Die Welt: Weil das Schengenabkommen, eine der
zentralen Errungenschaften des Binnenmarktes, damit unweigerlich
zu Grabe getragen würde.
Collier: Schengen ist doch längst tot. Und
wissen Sie was: Das macht auch nichts. Meine Heimat
Großbritannien ist auch nicht Teil des Schengenabkommens. Ich
kann nicht erkennen, dass das irgendeinen Nachteil hätte.
Schengen ist nur so ein theatralisches Symbol der Brüsseler
Politiker. Man will damit so etwas wie einen europäischen Staat
suggerieren. Aber Schengen hat nichts mit Europa zu tun. Was
zählt, ist, dass wir von einem Land ins andere reisen können. Und
das geht auch ohne Schengen.
Aus Sicht des Oxford-Experten
für Migrationsforschung, Paul Collier, ist das europäische Regime
für offene Grenzen, "Schengen" genannt, nur ein Symbol, das
aufzugeben nichts kostet: "Wichtig ist, dass man frei reisen
kann, dafür braucht man Schengen nicht"
Die Welt: Das sehen die Exporteure innerhalb der
EU definitiv anders. Sie befürchten enorm steigende Kosten, wenn
die Grenzbäume wieder unten sind.
Collier: Das Argument halte ich für
vorgeschoben. Wenn ich nach Kontinentaleuropa einreise, zeige ich
meinen Pass vor, das dauert zehn Sekunden, und mehr Aufwand ist
das nicht. Wichtig ist, dass man frei reisen kann, und dafür
braucht man kein Schengen. Es ist doch ganz einfach: Jedes Land
ist dafür zuständig, seine eigenen Grenzen zu sichern. Sie können
auch nicht einfach so nach Botsuana einreisen. Warum soll das in
Europa anders sein?
Die Welt: Also wird Europa nicht an einem
möglichen Ende von Schengen zerbrechen?
Collier: Europa wird überhaupt nicht zerbrechen.
Das ist alles übertrieben. Das Problem wird gelöst werden,
entweder durch die Staaten gemeinsam oder durch einzelstaatliche
Lösungen.
Die Welt: In Ihrem Buch haben Sie davor gewarnt,
dass zu viele Migranten die soziale Struktur der Gesellschaft
gefährden. Gerade nach den Übergriffen von Köln ist diese Gefahr
doch real?
Collier: Das glaube ich nicht. Die Menschen
werden erkennen, dass der Zustrom nur die Folge eines großen
Politikfehlers war, der wieder behoben wird. Aber sicher wird es
mit der Integration schwierig. Diese wird umso schwieriger, je
mehr Migranten sich in einem Land befinden und auf engem Raum
zusammenleben. Denn dann sinkt die Notwendigkeit, sich wirklich
kulturell und sprachlich für das Gastland zu öffnen. In der Folge
entstehen schwer steuerbare Parallelgesellschaften.
Die Welt: Beispiele dafür gibt es zuhauf. Aber
an welchen Ländern, die das Problem gut gelöst haben, könnte sich
Europa denn ein Beispiel nehmen?
Collier: Die USA haben die Einwanderung
erfolgreich für sich nutzen können. Und auch Kanada und
Australien sind Beispiele für gute Integration. Beide Länder
betreiben eine sehr selektive Zuwanderungspolitik. Kanada etwa
nimmt nur 25.000 Syrer auf – und auch nur Familien, keine allein
reisenden jungen Männer. Viele Probleme, über die Europa jetzt
klagt, entstehen so gar nicht erst.
Quelle: http://www.welt.de/wirtschaft/article151603912/Ist-Merkel-schuld-an-Fluechtlingskrise-Wer-sonst.html
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